Vortrag: Zwischen Sozialismus und Esoterik: „Der neue Mensch“ im spätsozialistischen Bulgarien

Termin: 7. Juni 2024, 15.00 bis 17.00 Uhr
Ort: Kirchliches Archivzentrum, Bethaniendamm 29, 10997 Berlin
Referent: Viktoria Vitanova-Kerber
Eintritt: 5 EUR

Liebe Mitglieder und Freunde des Instituts und der Gesellschaft zur
Förderung vergleichender Staat-Kirche-Forschung e.V.,

am Freitag, dem 7. Juni gab es einen spannenden Vortrag zur Esoterik im spätsozialistischen Bulgarien, einem Land, das man entweder mit Religionslosigkeit oder mit der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche in Verbindung bringt. Viktoria Vitanova-Kerber promovierte zu diesem Thema an der Universität Fribourg, wo sie auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist. Im Zentrum ihrer Doktorarbeit steht die Idee des „neuen Menschen“, die von der bulgarischen Kultusministerin Ljudmila Schiwkowa (1942-1981) seit Mitte der siebziger Jahre verbreitet wurde. Ihr Vater Todor Schiwkow war von 1954 bis 1989 bulgarischer Staatschef und erster Sekretär der BKP. Ljudmila hatte nach einem schweren Autounfall im November 1973 eine Art esoterisches Bekehrungserlebnis. Nur mit Hilfe der bulgarischen Seherin Baba Wanga und spezieller Yoga-Übungen sei es ihr gelungen, das Sehvermögen wiederzuerlangen. Während einer Indienreise 1975 verfestigte sich Schiwkowas Interesse an östlicher Heilkunst und Philosophie. Sie schloss sich dem „Agni Yoga“ an, einer theosophischen Lehre, die von Helena und Nicholas Roerich nach dem Ersten Weltkrieg in den USA begründet wurde, wohin das Ehepaar wegen der Oktoberrevolution emigrierte.

In ihrer Funktion als bulgarische Kulturpolitikerin förderte Ljudmila Schiwkowa die Ideen Roerichs nach Kräften. Nach dem Studium der Kunstgeschichte in Moskau war sie 1972 Mitglied des staatlichen Komitees für Kunst und Kultur geworden, dem sie von 1975 bis
zu ihrem Tod im Rang einer Ministerin vorstand. Zuvor hatte sie an der Universität Sofia Balkanistik studiert und in diesem Fach auch promoviert (1971) und habilitiert (1974).
Der betont sowjetfreundlichen Politik ihres Vaters stand Ljudmilas weltanschauliche Agenda in zweierlei Hinsicht entgegen. Zum einen betonte sie den bulgarischen Nationalismus und die thrakische Vergangenheit des Landes in einer Weise, die in Moskau wie in
Sofia auf Ablehnung stieß. Zum andern waren ihre zahlreichen esoterischen Aktivitäten dazu angetan, die atheistische Grundlage des Staates zu diskreditieren. Immerhin gehörte sie seit 1976 dem Zentralkomitee und seit 1979 auch dem Politbüro der Bulgarischen Kommunistischen Partei an. Dort hielt man wenig davon, dass eines ihrer Mitglieder das Land mit einer theosophisch unterfütterten „lebendigen Ethik“ spirituell weiterentwickeln wollte. Für 1978 rief Schiwkowa ein Roerich-Jahr für Bulgarien aus, bei dem u. a. eine große Ausstellung mit über 200 Gemälden von Nicholas Roerich (1874-1947) in Sofia stattfand.
Dessen Sohn Svetoslav (1904-1993) kam im März 1978 eigens aus Indien nach Sofia, um an der Ausstellungseröffnung teilzunehmen. Im Mai wurde ihm von Schiwkowa persönlich die Ehrendoktorwürde der Universität Weliko Tarnowo verliehen.

Für die im Oktober 1981 anstehenden Feierlichkeiten zum 1300-jährigen Bestehen Bulgariens stellte die esoterische Lehre vom ganzen Menschen, mit der das Land unter Einsatz nicht unbeträchtlicher Finanzmittel in eine neue Zukunft geführt werden sollte, ein Problem dar. Nicht wenige sahen das bulgarische Kulturerbe in Gefahr. Wenige Monate vorher kam Ljudmila Schiwkowa jedoch am 21. Juli 1981 auf mysteriöse Weise ums Leben. Dass der Verdacht aufkam, sie sei einem Anschlag zum Opfer gefallen, konnte nicht ausbleiben, auch wenn bislang hierfür keine Belege beigebracht wurden.

Unterschrift Prof. Dr. Horst Junginger

Prof. Dr. Horst Junginger

Foto: Michael Kastelic from Pixabay