Siegfried Prokop: Tagungsbericht

Zur Wirkungsgeschichte des Weißenseer Arbeitskreises in der Ära Ulbricht (1958 und folgende) und der Weißenseer Blätter (1982-2006)

Erschienen in Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG) 2/2025

Am 11. April 2025 fand im Kirchlichen Archivzentrum am Bethaniendamm in Berlin eine Vortragsveranstaltung über den Weißenseer Arbeitskreis (WAK) statt. Einlader und Veranstalter war das Institut für vergleichende Staat-Kirche-Forschung. Die Arbeitsgemeinschaft WAK und die Weißenseer Blätter (Wbl) haben bislang nicht die Aufmerksamkeit der Forschung und der interessierten Öffentlichkeit gefunden, die ihnen aufgrund ihrer Bedeutung für die Kirchengeschichte der DDR zukommt. Das hat auch damit zu tun, dass dem am 17. Januar 1958 in der Weißenseer Stephanus-Stiftung gegründeten Arbeitskreis eine Übereinstimmung mit der SED-Politik unterstellt wurde, die für ihn als Ganzes so nicht zutraf. Die bei der Gründung anwesenden 180 Personen (die meisten davon Pfarrer und Pfarrerinnen) vertraten wie die später Hinzugekommenen durchaus unterschiedliche Positionen, die nicht über einen Kamm geschert werden können. Sowohl in theologischer als auch in religionspolitischer Hinsicht wäre es angebracht, sich stärker wissenschaftlich und weniger ideologisch mit dem Wirken des Weißenseer Arbeitskreises auseinanderzusetzen, heißt es in dem von Institutsleiter Prof. Junginger unterzeichneten Einladungsschreiben. Dem Wechselverhältnis mit der westdeutschen Kirchengeschichte (Stichworte: Adenauer-Ära, Militärseelsorgevertrag, Atomdebatte, Obrigkeitsdenken, Dibelianismus) sollte dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Gegründet wurde der WAK am 17. Januar 1958 durch eine Initiativgruppe um Gerhard Bassarak (Leiter der Ev. Akademie Berlin) und Albrecht Schönherr (Superintendent in Brandenburg, später Bischof). Hunderte Pfarrer und einige Laien waren per Rundbrief nach Weißensee eingeladen, motiviert durch die wachsende Unzufriedenheit mit der stagnativen Kirche unter Bischof Dibelius. Sie kamen zusammen, damit „wir uns über die Lage unserer Kirche klar werden“.

Die Selbstbenennung WAK geschah nach dem Ort, an dem man sich in den nächsten Jahren regelmäßig versammelte. Der Untertitel im Namen lautete „Kirchliche Bruderschaft in Berlin-Brandenburg“.

Der Hintergrund des Fachterminus „Bruderschaft“ wurde eingangs beleuchtet. Der Referent Ulrich Krum, Pfarrer i. R. und Zeitzeuge (geb. 1944, Autor u. a. von: Die Bibel für Nichtchristen und einer Biographie über Engels: Friedrich der Andere), führte in die geistigen und theologischen Wurzeln der Bruderschaftler ein: Die Linien führen zu dem großen Theologen Karl Barth (dem sog. „Vater der Bekennenden Kirche“ (BK)), Begründer der dialektischen Theologie, und zu Pastor Dietrich Bonhoeffer, dem aktiven Anti-Nazi und Märtyrer. Der Referent betonte: Nicht antifaschistisch, sondern anti-nazi war die politische Haltung der BK-Leute, die sich gegen die braunen „Deutschen Christen“ formiert hatten. – Der Ur-Anstoß für den jungen Pfr. Karl Barth war ursprünglich die fassungslose Empörung darüber, dass der deutsche Protestantismus in das patriotische Kriegsgeschrei 1914 einschwenkte: „Gott mit uns“. Unter seinem und dem Einfluss von Martin Niemöller entstand 1947 das Darmstädter „Wort der BK zum politischen Weg unseres Volkes“, worin erstmals offiziös bekannt wurde, wir (die Kirche) „sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, dass der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag … im Diesseits hätte gemahnen müssen“, als wir uns mit dem konservativen Bürgertum verbanden und die soziale Frage leugneten.

Die Mitglieder des WAK stimmten bei aller Differenziertheit darin überein, dass dieser Irrweg – für den Bischof Otto Dibelius mit seinem Militärseelsorgevertrag 1957 exemplarisch stand – nicht fortgesetzt werden durfte.

Mit einigen persönlichen Erfahrungsberichten Krums zur politischen Haltung des WAK wurde übergeleitet zur Aussprache; diese enthielt u. a. Folgendes.

Im Jahr der WAK-Gründung entstand auch der BUND EV. PFARRER IN
DER DDR sowie die CHRISTLICHE FRIEDENSKONFERENZ (CfK). Beide Strömungen waren frei von Antikommunismus, sie zeigten Überschneidungen mit Zielen und Motiven des WAK. Unterschiede bestanden durchaus: die CFK war international vernetzt, Initiator war Professor J. Hromádka/CSSR, auch S. Prokop: Der Weißenseer Arbeitskreis (1958 ff.) BzG 2/2025 143 der Laienanteil war stärker. Der Pfarrerbund erreichte trotz Finanzausstattung durch die Nationale Front nie die angestrebte Breite.1)

Die Verpflichtungserklärung der WAK-Mitglieder lautete ab 1960: „1. Ich
habe von der Grundsatzerklärung … Kenntnis genommen. 2. Ich verpflichte mich zur Mitarbeit. 3. Ich verpflichte mich zu einem finanziellen Beitrag.“ In der Grundsatz-Erklärung vom März 1960 hieß es, der WAK ist eine Arbeitsgemeinschaft von Theologen und Nichttheologen, arbeitet in Plenar- und Regionaltagungen; ist von kirchlichen und staatlichen Stellen unabhängig und finanziert sich selbst; wird von einem gewählten Leiterkreis geleitet; setzt sich innerkirchlich für die Geltung der „Barmer Erklärung“ von 1934 und des „Darmstädter Wortes“ von 1947 ein.2)

Wichtiges Ergebnis der programmatischen Arbeit waren die 1963 verabschiedeten „Sieben Sätze von der Freiheit der Kirche zum Dienen“ – in Abgrenzung von der auf Privilegien bedachten Amtskirche.

Wichtig war auch die Abkehr von der Babytaufe, die ein unmündiges Kleinkind vergewaltigen will. Favorisiert wurde die Erwachsenentaufe.

Mit der Übernahme des berlin-brandenburgischen Bischofsamtes durch Albrecht Schönherr (er kam ja aus dem Leiterkreis des WAK) war Ende der 60er Jahre der Höhepunkt des Wirkens überschritten. Es herrschte die Annahme: jetzt ist einer von uns an der Spitze. Die Tagungsbeteiligung schrumpfte auf weniger als 10 %. In dieser Situation äußerte Hanfried Müller (ehemals im Leiterkreis, Hauptverfasser der „Sieben Sätze“) Anfang der 1980er sinngemäß: Wenn wir, die Schrumpfgruppe, keine Organisation mehr aufweisen können, brauchen wir wenigstens ein Organ. Ab 1982 gab er die „Weißenseer Blätter“ heraus, die er konzipierte und mit großem persönlichem Einsatz seiner Frau, Rosemarie Müller-Streisand, herstellte. Zu diesem Zeitabschnitt kamen instruktive Erläuterungen von Krum.

Ein Diskutant aus dem Staatsapparat der DDR informierte darüber, dass im SED-ZK und im Staatssekretariat für Kirchenfragen die Wbl argwöhnisch bzw. besorgt beobachtet wurden. Ebenfalls argwöhnisch war die Partei der Christdemokraten, z. B. der Chefredakteur des CDU-nahen Blattes „Standpunkt“, Günter Wirth. Man sorgte sich um das Monopol als Sprecher der fortschrittlichen Christen. In den 80ern wurden die WBl in allen SED- und CDU-Publikationen konsequent totgeschwiegen.

In mehreren Angela Merkel-Biographien kommen WAK und WBl vor, weil Merkels Vater, Horst Kasner, zeitweise Mitglied im Leiterkreis des WAK war. Dabei wird allerhand Unsinn verbreitet, „Handlanger des SED-Regimes“ usw. – bis hin zu der Behauptung, Margot Honecker hätte bei der Gründung der WBl Pate gestanden.

In seinen Schlussbemerkungen wies der Leipziger Professor für Religionswissenschaft Horst Junginger darauf hin, dass es sich bei dem behandelten Thema um ein Forschungsdesiderat handelt. Er unterbreitete den Vorschlag, das für die DDR-Publizistik ungewöhnliche Periodikum WBl (1982–2006) zu digitalisieren. Auch künftige Veranstaltungen des Berliner Staat-Kirche-Instituts werden die geistigen Strömungen im DDR-Protestantismus im Auge behalten.

Fußnoten
1 Vgl. Peter Joachim Lapp: Deutsche Christen in Rot? Ulbrichts Pfarrerbund. Dokumentation und Analyse. Aachen 2023. Besprechung in: BzG, 4/2024, S. 166–168.
2 Dazu Christian Stappenbeck: Die Anfänge des Weißenseer Arbeitskreises, in: Wbl, 1/1983 S. 38–46.